Ein „Burgschreiber“ berichtet
Im Oktober 2013
Liebe Kenner der Kleinen Künste,
da vernachlässigt man ein Jahr lang die notwendige Veranstalter-Akquise und legt somit seinen Künstlerruf in Gottes Hand – und es passieren einem die tollsten Sachen:
Ich blicke aus meinem Arbeitszimmer nicht in den gewohnten Prenzlberger Innenhof, sondern aufs Gelände der sogenannten Burg Waldeck, der großen Lichtung oberhalb einer verfallenen Burganlage, die dort liegt, wo der Hunsrück vermutlich am schönsten ist: in der Baybach-Klamm. Da sehe ich nun auf die waldigen Hügel und kann die herbstlichen Farbtöne nicht mehr wegleugnen. Eigentlich ist dies der beste Ort, um – mit einer Flasche Pfälzer Federweißer – den Sommer zu verabschieden. Etwas wärmer hätte ich mir den Spätsommer gewünscht, aber ich will mich ja nicht beklagen, sondern jubeln:
Die Waldeck, namentlich die Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V. und die Peter Rohland Stiftung haben mir nämlich ein WaldeckKulturStipendium gewährt: einen mehrwöchigen kreativen Arbeitsaufenthalt – inklusive finanzieller Beihilfe!
„Burgschreiber“ könnte man das vielleicht auch nennen.
Seit Jahren träume ich vom Landleben, und davon, wie positiv sich ein solches auf mein künstlerisches Output auswirken könnte – prompt und von unverhoffter Seite schenkt man mir davon fünf Wochen!
Und tatsächlich, die optimistische Annahme hat sich bestätigt: Unter anderem habe ich geschrieben über ein imaginiertes Klassentreffen, die kleinen Straßen in der Hinterwelt, über das Radfahren in Berlin, eine aufrüttelnde Begegnung zur Geisterstunde, über Erkenntnisse zum gestrigen Tag, eine beinahe authentische Bamberg-Nostalgie und ein zufälliges Wiedersehen mit einer alten Freundin namens Momo.
Nicht, dass das alles von vorn bis hinten hier entstanden wäre: Vieles davon lag seit Jahren unangetastet in Kladden und Dateien, weil mir Muße und Geduld fehlten, jene Punkte, an denen es nicht weitergeht, zu überwinden. Die Waldeck inspirierte zu neuen Anläufen und zu Ausdauer bei der Fertigstellung.
Was fertig wurde, habe ich spaßeshalber schon mal auf holger-saarmann.de – als “Neu!“ – meiner Repertoire-Seite hinzugefügt, allerdings vorerst ohne die sonst üblichen Links zu den Liedtexten: Die möchte ich euch doch lieber erst einige Male vorgesungen haben – Details dazu in meinem Terminkalender – ehe ich sie zum Online-Schmökern freigebe.
Der Waldecker Schaffensdrang konkurriert durchaus gegen den Landschafts-Erkundungsdrang, denn diese unglaubliche Umgebung, die schon vor hundert Jahren die sangesfreudigen Wandervögel und vor fünfzig Jahren die zunehmend politisch bewegten Besucher der legendären Festivals „Chanson Folklore International“ (1964-69) anlockte, will unbedingt entdeckt werden!
Eigentlich hatte man mich (auf Anregung Christof Stählins) im Rahmen des „Internationalen Liederfestes“ zu Pfingsten nur gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, solche Stipendien koordinieren zu helfen, weil das halt irgendeiner machen müsse, der die Liedermacherei von innen her kennt. Ich sagte zu und grübelte daraufhin, was ich denn den künftigen Bewerbern über die Waldeck und das Stipendium erzählen solle. Ich selber hatte so viele Fragen, dass ich mich zum Selbstversuch anbot. Meine befreundete Kollegin Masha Potempa bekam Wind von der Sache und fragte, ob denn da nicht Platz für zwei sei; sie trete ohnehin beim Peter-Rohland-Singewettstreit auf.
So kam es, dass ich zumindest die ersten drei Wochen nicht allein hier verbringen musste, und das war auch gut so: Liedermacher sollten sich untereinander austauschen können, sollten testen können, ob die neuen Verse für andere Ohren überhaupt verständlich sind.
Im Idealfall treten sie sogar gemeinsam auf: So durfte ich Masha beim Singewettstreit mit einer zweiten Gitarrenstimme unterstützen.
Wir haben unseren Aufenthalt fotografisch dokumentiert. Und da dieser Bericht auch zukünftigen Bewerbern als Info dienen soll, seht ihr auf holger-saarmann.de eine stattliche Auswahl an Bildern.
Eigentlich könnte man hier, im 2012 wiedererrichteten Mohrihaus, sogar Liedermacher mitsamt Familie einquartieren (wie Christof Stählin es angeregt hatte), wenn nicht die Unterkunft so hellhörig wäre, dass dann vermutlich für die Bufdis ein neues Quartier gefunden werden müsste.
Klar, da gibt es (neben den allzeit gut ausgelasteten Gästehäusern) auch diverse bewohnbare Hütten auf dem Gelände, aber deren Pächter genießen natürlich das Vorrecht. Steht tatsächlich mal eine leer, so wie diesmal die Wiesbadener Hütte, so darf sich ein Liedermacher gern dort zum Arbeiten und Musizieren aufhalten. Man kann dort auch übernachten, wenn man es etwas atmosphärischer, etwas abenteuerlicher mag und auf den Komfort einer schnell erreichbaren Dusche oder Küche verzichten kann.
Natürlich habe ich das alles ausprobiert, sitze nun aber doch wieder in der (inzwischen zentralgeheizten) Konferenzstube des Mohrihauses: Um die Wiesbadener Hütte warm zu kriegen, hätte ich erst Holz sammeln oder kaufen müssen.
Peer, der Archivar, stellt mir neben informativen Büchern und Aufsätzen auch die 10-CD-Box „Die Waldeck-Festivals 1964-69“ zur Verfügung (deren offiziellem Erscheinen ich Pfingsten 2008, bei meinem ersten Waldeck-Besuch, beiwohnen durfte). Ich staune, während ich mich da nach und nach durchhöre: Neben all den frühen deutschen Liedermachern, denen die Festivals als Sprungbrett ins große Geschäft dienten, wurden hier bereits Mitte der Sechziger sämtliche Folk-Strömungen der Siebziger und Achtziger vorweggenommen:
Peter Rohland sang bereits jiddische Lieder und – neben Hein & Oss Kröher – aufmüpfige deutsche Volkslieder, so wie später Hannes Wader, die Bands Liederjan und Zupfgeigenhansel und unzählige Andere – und ab Mitte der Neunziger ich selber!
Michael Wachsmann interpretierte – mit Christof Stählin an der Gitarre – u. a. englische Lieder der Shakespeare-Zeit; auch das Jahre bevor sich eine Szene etablierte – sogar in der finstersten Provinz der Grafschaft Bentheim, wo ich mir Anfang der Neunziger, inspiriert durch Repertoire und Aktivitäten meiner Musiklehrer, Lautenlieder der Renaissance zu eigen machte.
François Villon – ja, war der überhaupt jemals vergessen? – Jeder, der was auf sich hielt, vertonte und sang Mitte der Sechziger seine Lyrik, auch auf der Waldeck. Und selbst das Mittelalter war bereits durch den Drehleier-Barden Karl Wolfram repräsentiert.
Die Nachbarländer (inkl. DDR), aber auch Amerika, Russland, Südeuropa und sogar Israel, sie alle waren auf den Festivals vertreten. Ich hebe hier nur das hervor, was in meiner eigenen Musikerbiographie eine Rolle spielte – ganz ohne dass ich dabei an die Waldeck gedacht hätte. Die nahm ich eigentlich erst wahr durch den Kontakt zu Christof Stählin. Aber diese Festivals, die ja ihrerseits auch in der Tradition der weltweit liedersammelnden Wandervögel wurzeln, haben fortgewirkt bis hinein in mein eigenes Schaffen.
All die auf der Waldeck präsentierten Genres und Künstler waren in den Medien nicht vorgekommen. Das änderte sich durch den Erfolg der Festivals. Von den Impulsen, die hier zusammenfanden, zehrte die Folk- und Chanson-Szene – befeuert durch (vorübergehendes) mediales Interesse – noch zwei Jahrzehnte. Heute herrschen in Funk & TV – von immer enger werdenden Nischen abgesehen – längst wieder Vor-Waldeck-Zustände.
„Überrascht uns!“, lautete die Aufforderung an die Musiker, mit der Diethart Krebs 1964 seine Begrüßungsrede beschloss. Ist das nicht ein wunderbarer Anspruch? Man stelle sich vor, nach diesem Kriterium würde ein heutiger Kleinkunst- oder Festivalveranstalter sein Profil erweitern – es wäre unerhört!
An dieser Stelle sei der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck und der Peter Rohland Stiftung, namentlich allen voran mike (alias Joachim Michael) ganz herzlich für ihre Gastfreundschaft, ihr Engagement und jedwede Form der Zuwendung gedankt.
Danke ebenfalls an das Burgvogt-Paar Dido & Happy Freund und ihr Team, insbesondere Martin Wimberg für angenehme Wochen des Zusammenwohnens.
Dies war mein vierter und mit Abstand längster Besuch auf der Waldeck, und ich reise ab mit dem Gefühl, dass da noch Einiges kommen wird.
Wenn demnächst das WaldeckKulturStipendium offiziell ausgeschrieben wird, werde ich mich als Koordinator üben.
Herzliche Grüße aus Berlin sendet Euch und Ihnen
Holger Saarmann
(aus: KÖPFCHEN 3+4/2013, Seite 1 und 17f.)
Kleine Straßen
Abgeschirmt vom Lärm der großen Straßen,
den mancher für das wahre Leben hält,
erstreckt sich ein völlig andre Welt,
eine Welt von außerordentlichen Maßen.
Das Leben und wodurch es Sinn erhält,
wohnt in den kleinen Straßen dieser Hinterwelt.
Die meisten Autos werden hier nie fahren,
denn Straßen, die das GPS nicht nennt,
die sind für manchen schlicht nicht existent.
Dem Spaziergänger, dem wird sich offenbaren:
Die kleinste Straße, wo immer auch versteckt,
führt überall dich hin – und sei es indirekt.
Im Frühjahr stehn hier alle Fenster offen.
Von oben, hinter all der Blütenpracht
hallen Liebesseufzer in die süße Nacht.
Daß du daheim bist, Liebste, will ich hoffen:
Es steht dein Haus, das vor sich hin verfällt
in einer dieser Straßen durch die Hinterwelt.
Wir frühstückten im Sommer dort, im Vierten,
vor deinem Küchenfenster auf dem Baugerüst.
Weil noch immer keiner ausgezogen ist
gehört dein Haus zu den noch nicht Sanierten.
Manch Investor glaubt ans leicht verdiente Geld
und mancher, der nicht hergehört, erkauft sich seinen Platz in der Hinterwelt
Wir Fußgänger, die diesen Kiez bewohnen,
wir wissen: Wenn man uns den Gehweg sperrt,
dann werden Baustellen zu Fußgängerzonen,
indem man Freitagsnacht den Zaun beiseite zerrt.
Und wenn Laternenschein das Labyrinth erhellt,
dann tanz ich mit dir auf den Straßen durch die Hinterwelt.
Schaust du im Herbst hinüber zur Fassade,
erkennst du, wenn die Nacht schon früh beginnt
und die Vorhänge nicht zugezogen sind,
vom Erdgeschoss bis unter die Mansarde
durch die Dämmerung des abendlichen Graus
einen Setzkasten des Lebens im ganzen Nachbarhaus.
Als dir bestimmter Gruß von gegenüber
scheint all der bunte Fensterschmuck gedacht,
der die Kluft zwischen den Jahren lichter macht.
Ich gesteh: Ein echtes Winken wär mir lieber
und hoff auf Schnee, der früh im Winter fällt –
als Decke für die kleinen Straßen in der Hinterwelt.
Das ist die Gegend, mit der ich mich umgebe –
vom vierspurigen Trubel unberührt.
Und fragt man mich, in welcher Welt ich lebe,
wohin ich denke, daß mein Weg wohl führt,
so erklär ich: Irgendwer hat mir erzählt,
die allerkleinsten Straßen, die führen durch die ganze Welt.
Holger Saarmann
(Burg Waldeck, September 2013)
Demoversion siehe http://snd.sc/1b34eO6
(aus: KÖPFCHEN 3+4/2013, Seite 17)