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Bernhard Hanneken: Burg Waldeck 1964

Aus: Deutschfolk – Das Volksliedrevival in der BRDDR, 2021
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Burg Waldeck 1964

Sei wachsam, sing nicht!
Hans Magnus Enzensberger (1957)

„Der ganze Kitsch von Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein und diese ganze Ära, die uns zum Halse heraushing, das wussten wir, ging damit zu Ende. Und es begann damit eine neue Epoche.“

Die Pirmasenser Zwillinge Hein und Oss Kröher sitzen auf der Burgruine Waldeck und sinnieren vor der Kamera der Journalistin Christel Priemer über die Anfänge der Festivals, die dort von 1964 bis 1969 stattfanden. Wobei – „die Burg Waldeck ist ja keine Burg, das muss man denen erzählen, die noch nicht da waren: Es ist ein Stück Landschaft. In diesem Stück Landschaft gibt es eine Burgruine und anderthalb Häuser und eine sich senkende Wiese, an deren Ende ein paar Büsche sind. Und wenn man vor diese Büsche ein Podest stellt, hat man eine Bühne, und wenn man sich auf die Wiese setzt, hat man ein Amphitheater.“ (Diethart Kerbs 1996)

Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein war einer der größten westdeutschen Nachkriegsschlager. Gesungen von René Caroll, läutete er – im Text hieß es: „und Italiens blaues Meer im Sonnenschein … laden uns ein, laden uns ein“ – in den boomenden Wirtschaftswunderjahren ein ganzes Genre von Liedern ein, die dem beginnenden Urlaubsreisedrang der Menschen gen Süden Vorschub leisteten: Ihm folgten Cornelia Froboess՚ Zwei kleine Italiener und Nana Mouskouris Weiße Rosen aus Athen, womit man eigentlich nur einen kleinen Schritt entfernt war von den internationalen Fahrtenliedern, die ja auch einen gewichtigen Bestandteil des Repertoires der Waldeck-Sänger ausmachten.

Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg halfen die USA aus kühlen wirtschaftlichen Überlegungen heraus der Bundesrepublik Deutschland wieder auf die wackeligen Beine – vorausahnend, dass man sich damit dauerhafte Zukunftsmärkte sichern konnte. „Wie auf politischem und ideologischem Gebiet sahen sich die vier Besatzungsmächte nach der Niederringung des Naziregimes im Bereich des Kulturellen vor zwei Aufgaben gestellt: die Liquidierung der bestehenden faschistischen Organisationen sowie den Neuaufbau einer demokratischen Ordnung, die sowohl Freiheit als auch Gerechtigkeit garantiere … Kulturpolitisch wohl am aktivsten traten in den ersten Jahren die USA und die UdSSR auf, während sich die Engländer und Franzosen eher zurückhielten, ja im Zuge der Zusammenlegung der westlichen Besatzungszonen auch auf diesem Gebiet die Führungsrolle zusehends den US-Amerikanern überließen, die im Januar 1947 bereits 27 Amerikahäuser und 136 Reading Rooms in ihrer Zone unterhielten.“ (Jost Hermand)

Dankbar griffen die Westdeutschen zum Strohhalm, den ihnen die Amerikaner boten: Indem diese ihre Kultur weltweit als modern, als fortschrittlich zu vermarkten verstanden, kamen bei den Deutschen erst gar keine Gewissensbisse auf, als man sich flugs der eigenen kulturellen Historie entledigte. Deutsch sein – was war das? Durfte man in den fünfziger Jahren noch guten Gewissens deutsche Lieder singen? Ja, natürlich durfte man, wie das ungebrochene Singen in Wirtshausstuben, vor allem in Bayern, und in Familien bewies. Zumal das deutsche Volkslied nichts dafür konnte, dass es von den Nazis missbraucht worden war. Aber wer differenzierte schon derart? Dabei hätte das gar keine Rolle spielen müssen, hielten doch noch 1956 über 40% der Westdeutschen Hitler für einen der größten deutschen Staatsmänner. Noch ein paar Prozentpunkte mehr befanden, der Nationalsozialismus sei an sich eine gute Idee gewesen, nur schlecht ausgeführt. „Noch bevor die Bundesrepublik geboren war, ertönte die fatale Forderung, man solle einen ‚Schlussstrich‘ unter der Geschichte ziehen. Gemeint war: Lasst uns von den Verbrechen schweigen, die totalitäre Barbaren und ihre Mitläufer im Namen Deutschlands zwölf Jahre lang begangen haben. Die ‚Stunde null‘ wurde zur magischen Beschwörungsformel, als könne ein Volk mit einer zweitausendjährigen Geschichte seine Uhren einfach zurücksetzen, die Ärmel hochkrempeln und so tun, als sei das Material, aus dem man sich anschickte, das Neue zu bauen, etwas anderes als die Trümmer der eigenen Vergangenheit.“ (Thea Dorn)

Aber dann war die Zeit der ersten Not vorbei. Die Menschen hatten überlebt, konnten gegen Ende der 50er Jahre sogar erstmals im Ausland Urlaub machen, nicht nur in Österreich, sondern z. B. am Gardasee. Und mussten sich die deutsche Nazivergangenheit vorhalten lassen – ein Thema, über das in den Familien und oft auch in den Schulen beharrlich geschwiegen wurde.

Während das neue Kleinbürgertum unvermindert nach Mief, Prüderie und Gehorsam roch und das Nazi-Verbot von Jazz in eine neu-alte Sprache übersetzte („Mach die Negermusik aus!“), verharrte auch ein Teil der Jugend in alten Mustern. Die Flakhelfer-Generation war in der Hitlerjugend sozialisiert und, oftmals als Idealisten, in die letzten Kriegshandlungen verwickelt worden. Diese „skeptische Generation“ (so genannt vom Soziologen Helmut Schelsky), Jugendliche bis in die fünfziger Jahre hinein, widmete sich unpolitisch und privatistisch dem Wiederaufbau. Vom Meinungsforschungsinstitut Emnid erhobene Untersuchungen stellten damals bei diesen „Jugendlichen ein hohes Maß an autoritären, rassistischen Haltungen fest … Trotz der Befreiung, trotz mancher Proteste und Bewegungen, die in den ersten 15 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen sind, ist davon auszugehen, dass der Erfahrungsraum der Jugendlichen von Verdrängungen und Verengungen gekennzeichnet war und der Erwartungshorizont von der Schwerkraft einer kollektiven kulturellen Textur gleichsam verklebt blieb … Eine Vorarbeit für Versuche, [diesen derart] beherrschten Erfahrungsraum hinter sich zu lassen und den Erwartungshorizont zu öffnen, die Ouvertüre für das, was sich alsbald unter der Bezeichnung ‚68er‘ zur deutlichsten Generationseinheit der Republikgeschichte fügen sollte, kam aus den untersten Klassenlagen dieser Jugendgeneration. Seit Mitte der 50er Jahre sahen sich die Erwachsenen in ihrer Sehnsucht nach einer harmonischen, überschaubaren Ordnung von einer ihnen unverständlichen, unheimlichen Protesthaltung gestört. Die Distanzierungsbewegung der Jugend formierte sich mit dem Rock’n’Roll der ‚Teddy-Boys‘ – so die euphemistische Integrationsvokabel. Zunächst einmal schockierte die ‚Musik, die assoziiert wurde mit Negern, Sex und Gewalt, die als ‚primitiv‘ galt. Die im Vergleich zu den späteren Studentenunruhen sprachlose, fast ausschließlich habituelle und dadurch umso entschiedener und bedrohlicher wirkende Zurückweisung der kleinbürgerlichen Ordnung wurde repräsentiert durch Musiker wie Bill Haley, dessen Deutschlandtournee im Oktober 1958 eine Spur der Rocker-Krawalle hinterließ, mehr noch durch Elvis Presley, der ‚echte sexuelle Fantasien‘ auslöste, aber auch durch Kinohelden wie James Dean und Marlon Brando.“ (Thomas Köhler) Sie, wie auch der spätere US-Präsident John F. Kennedy und der Jazz, verkörperten den Geist der Freiheit ebenso wie pubertäres Infragestellen. „Halbstarke“ wurden sie genannt; mit ihrer „Urwaldmusik“ waren sie eine Herausforderung für die überkommene hierarchische Ordnung zwischen Generationen, Geschlechtern und Klassen und provozierten – Höhepunkt der Bewegung waren die Jahre 1956-58 – hysterische Reaktionen seitens einer ob der raschen Veränderungen höchst verunsicherten Erwachsenengeneration, die das Ende von Anstand und Ordnung und mithin den Untergang des christlichen Abendlandes gekommen sah. Während sich Eltern und Kinder noch bei den Reizen neuester spannender Moden aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten trafen – Bikinis und Kunststoffkleider, Bluejeans und Nylonstrümpfe, Musikboxen und Kofferradios, Nescafé und Kaugummi -, waren Musik, manche Comics und sich langsam verändernde Geschlechterrollen den Altvorderen ein Graus. „Amerika wird zum Synonym für Jugend und der ‚American way of life‘ zur Waffe der Jugendlichen gegen die restriktiven Forderungen und preußischen Ideale wie Ordnung, Disziplin, bedingungslose Unterordnung unter Autoritäten der ‚Alten‘ … Was die Älteren am meisten empörte, war die scheinbare Sinnlosigkeit der jugendlichen Renitenz … Der Sozialpsychologe Thomas Ziehe erklärt [die] ebenso maßlose Kontrollsucht wie Angst vor jeglichen Gefühlen mit der nicht erfolgten Verarbeitung der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit: ‚Die fast besessene Konzentration auf Ordnung, Anstand, Sauberkeit war gegen den ‚Irrtum‘ der jüngsten Vergangenheit gerichtet. In dieser Sichtweise war der Nationalsozialismus ein unkontrollierter Ausbruch gewesen. Um das innere Tier im Zaume zu halten, das da losgelassen worden war, mussten die ‚alten‘ Tugenden wieder her, zumal diejenigen aus dem Reservoir preußischer Werte. Der Rigorismus im alltäglichen Detail sollte vor Fehlverhalten schützen. Die peinliche Beachtung von Regeln und Verhaltensnormen sollte symbolischen Schutz bieten – davor, noch einmal ‚ertappt‘ zu werden und abermals etwas falsch gemacht zu haben. Bestimmte Alltagskonventionen wurden fast mit ethischem Gehalt aufgeladen. Nicht (schlecht) auffallen, nicht unkorrekt aussehen: Wie es draußen ausschaut, sieht’s im Innern aus! Jetzt galt es, ein für alle Mal eine saubere Haltung zu zeigen und dauerhaft zu bewahren.‘“ (Klaus Farin) (Zehn Jahre später hatten sich die Vorzeichen gewendet: Erwachsene wollten zunehmend wie Jugendliche sein, zumindest aussehen, was den Beginn eines bis heute anhaltenden Jugendwahns begründete.)

Wie viele haben sich damals gerne geflüchtet, raus aus der deutschen Kultur, damit auch raus aus der eigenen Vergangenheit? Die amerikanische Popularkultur hatte „nichts mit dem deutschen autoritären Drill gemein … Der Swing und Drive des Jazz – eine nicht unerhebliche Zahl ehemaliger Kriegsgefangener spielte dann in den Jazzkellern der Besetzungsarmee – stand für einen Lebensstil, der sich Ritualen und Tabus, starren Reglements und autoritären Hierarchien verweigerte. Symptomatisch, dass ein Drittel von 60.000 Hörerwünschen, die in den ersten zwei Jahren nach Kriegsende die Sendeleitung von Mitternacht in München (Radio München) erreichten – einer der heißesten Jazz-Sendungen Europas –, einem einzigen Lied galt: Don’t Fence Me In (Sperr mich nicht ein).“ (Hermann Glaser) Ein ganz klein bisschen konnte man sich mit der Flucht zu Jazz und Elvis, zu James Dean und John F. Kennedy sogar nachträglich noch als Widerstandskämpfer fühlen.

Verändertes Freizeitverhalten, neue Vermarktungsstrategien, politische Einflussnahmen (CDU-Wahlkampfslogan „Keine Experimente!“), Vergangenheitsverdrängung – das alles spielte zusammen, als sich in Westdeutschland nach 1945 ein neues Kulturleben entwickelte – und zwar vor allem für die 82% der Bevölkerung, die als Volksschulabgänger von der hohen Kultur ausgeschlossen waren: „Während sich diese Schichten früher in ihrer kärglich bemessenen Freizeit vornehmlich mit Sport, Tanz, Gesellschaftsspielen, Wandern, Bastel-, Handarbeiten und Radfahren abgelenkt oder regeneriert hatten (das eigene Musizieren nicht zu vergessen), bot ihnen jetzt die ständig wachsende Freizeit die Möglichkeit, sich mindestens vier bis fünf Stunden pro Tag mit den Produkten jener Kulturwarenindustrie berieseln zu lassen, die ihnen neben der nötigen Unterhaltung zugleich die ebenso nötige Spannung bot, die sie als Ausgleich zu ihrer enervierenden und gratifikationslosen Arbeit unbedingt brauchten … Da weder der DGB noch die SPD ein Konzept einer eigenen Unterschichtenkultur befürworteten oder Bildungsprogramme für die Masse der Arbeiter entwickelten, um sie wie früher auch mit Werken der hohen Kunst vertraut zu machen, überließen sie diese Schichten kulturell weitgehend jenen Profit- und Meinungsmachern, welche sie mit den Erzeugnissen einer eigens für diese Bevölkerungsklassen geschaffenen Kommerzkultur belieferten … Je mehr sich die Unterprivilegierten dieser scheinbar harmlosen U-Kultur in die Arme warfen, desto mehr gaben sie sich einem Sog ins Billige, Verkitschende, Vulgarisierende hin, der sie nicht nur unterhielt, sondern auch ideologisch konditionierte … Und das ließen die Älteren – wegen ihrer bereits angepassten Haltung – auch willenlos über sich ergehen. Den Jugendlichen der gleichen Schichten, die es aufgrund des gesteigerten ‚Tempos der Zeit‘ eher ins Dynamische, Härtere drängte, setzte man dagegen von Seiten der Kulturindustrie ab Mitte der fünfziger Jahre eine deutlich ‚amerikanisierte‘ Kommerzkunst vor, die wegen ihres harten ‚Drive‘ und ihrer offeneren Sinnlichkeit zeitweilig als ‚rebellisch‘ galt und somit die potentielle Unzufriedenheit dieser Schichten höchst geschickt in den Kompensationsbereich des U-Kulturellen kanalisierte.“ (Jost Hermand)

Kulturpolitisch wurden also in den fünfziger Jahren die Weichen gestellt, nur dass diese Weichenstellungen nicht kultur-, sondern wie seitdem alles in der Bundesrepublik ökonomieorientiert waren – die Adorno՚sche „Amerikanisierung der Kultur“: Deren Wert bemisst sich ausschließlich pekuniär; was sich nicht verkaufen lässt, ist nichts wert und kann damit ignoriert werden. Anders ausgedrückt: „Was sich in den fünfziger Jahren auch kulturell durchzusetzen begann, war … ein von Erhard geförderter wirtschaftsanheizender Konsumismus, der auf dem Prinzip der ökonomischen Selbstregulierung und damit auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage beruhte. Das bedeutete in letzter Konsequenz, dass sich große Teile der Kultur zusehends jenen industriellen Organisationsformen und -techniken anpassen mussten, deren Tendenz zur Standardisierung Adorno im Hinblick auf die vollentwickelte Kulturindustrie der USA bereits in den dreißiger Jahren kritisiert hatte.“ (Jost Hermand)

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder!
Jetzt gibt՚s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder.
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder;
jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik –
ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.

Man muss beim Autofahren nicht mehr mit Brennstoff sparen;
wer Sorgen hat, hat auch Likör und gleich in hellen Scharen:
Die Läden offenbaren uns wieder Luxuswaren.
Die ersten Nazis schreiben fleißig ihre Memoiren,
denn den Verlegern fehlt es an Kritik –
ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.

Zwar gibt es Leut՚, die leben heut noch zwischen Dreck und Plunder,
doch für die Naziknaben, die das verschuldet haben,
hat unser Staat viel Geld parat und spendet Monatsgaben.
Wir sind ՚ne ungelernte Republik –
ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.

(Lied vom Wirtschaftswunder; Musik: Franz Grothe; Text: Günter Neumann; von Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller gesungen im Film Wir Wunderkinder 1958; im Folkrevival aufgegriffen von der Gruppe Liederjan)

Die fünfziger Jahre waren in Westdeutschland die Phase der Restauration, die Zeit, in der Alt-Nazis, von einem kritischen Geistes- und Kulturleben ungestört, sich (wieder) auf hohen Posten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden niederlassen konnten. Der Antikommunismus war eine Kontinuität aus der NS-Zeit, wobei der Stalinismus und das Verhalten der UdSSR gegenüber ihren osteuropäischen „Bruderländern“ nicht half, dem entgegenzuwirken: Sah man sich die dortigen Verhältnisse an, konnte der Kampf gegen den Bolschewismus doch so ganz falsch nicht gewesen sein. Mithin hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer keine Widerstände zu überwinden, als er 1950 einen ersten westdeutschen Radikalenerlass durchsetzte: Der so genannte „Adenauer-Erlass“ richtete sich gegen Mitglieder und Sympathisanten der KPD und zehn weiterer genannter Organisationen, darunter die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes. Statt die Opfer aus dem Exil zurückzuholen, setzte man auf bewährte NS-Parteigänger und ließ sie ungestört als Lehrer, Richter, Ärzte und auf anderen hohen und wichtigen Posten agieren. Trauriger Tiefpunkt dieser umstrittenen Politik des „Alten von Rhöndorf“: Hans Globke war Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze sowie verantwortlicher Ministerialbeamter für die judenfeindliche Namensänderungsverordnung unter Hitler; unter Adenauer stieg er dennoch zum Chef des Bundeskanzleramts auf und saß auch an anderen wichtigen Schalthebeln von CDU und Regierung. Er erhielt dafür das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, die höchste Auszeichnung des Landes – im Gegensatz zu dem von ihm zumindest stark behinderten Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer: Der homosexuelle Jude musste nach Kopenhagen ins Exil gehen, kehrte zurück, rehabilitierte die Attentäter des 20. Juli, die vorher als Vaterlandsverräter denunziert worden waren, und sorgte 1952 dafür, damals noch in Braunschweig, dass Nazi-Deutschland auch offiziell als Unrechtsstaat anerkannt wurde. Das Aufspüren Adolf Eichmanns in Argentinien sowie die bahnbrechenden Ausschwitz-Prozesse in Frankfurt ab 1963 sind weitere Ruhmesblätter seines Wirkens; der (west)deutsche Staat verweigert ihm allerdings bis heute unter fadenscheinigen Begründungen eine längst überfällige Ehrung.

Hier ruht in Gott der Schreibtischmörder Schlee,
Franz Amadeus Ephraim, Regierungsrat a. D.
In seinen Händen hielt er nie Pistole oder Flinte;
an seinen Fingern klebte nur a bisserl rote Tinte.
Auch die Pension, sie war ihm nicht versagt.
Und droben ist er auch nicht angeklagt.
Hier ruht er gut!
Hier ruht er gut!
Auf dem Großdeutschen Nationalfriedhof.

(Fritz Graßhoff: Auszug aus dem Großdeutschen Nationalfriedhof; gesungen von Schobert & Black)

Es sollte Ruhe herrschen im Land, und deswegen waren deutsche Politik und deutsches Gesellschaftsleben so wie deutscher Heimatfilm und deutscher Schlager: Heile Welt mit happy end. „Was für eine unsagbar spießige Zeit!“ seufzte noch Jahre später Hans A. Nikel, der 1962 das erste Heft der Satirezeitschrift Pardon herausgab: „Die läppischsten Sachen wurden als staatsgefährdend eingestuft!“ Dies kannte der gebürtige Bielitzer allerdings schon aus der DDR: 1947 hatte er in Erfurt Mitschüler animiert, einen FDJ-Marsch am 1. Mai als Trauermarsch zu verulken. Mit gesenktem Kopf krochen die Schüler im Schneckentempo über den Appellplatz. „Ich dachte, die FDJ sei eine freie deutsche Jugend“, rechtfertigt sich der Aufrührer später.

Nikel machte rüber nach Wiesbaden. Wo noch nicht die Zukunft angebrochen war; dafür konnte man, da die Industrialisierung erst wieder anlief und die Kommerzialisierung noch nicht alle Bereiche des Lebens erfasst oder gar durchdrungen hatte, im Kleinen immer noch versuchen, an gute alte Traditionen anzuknüpfen. Volksmusik und Volkstanz waren damals noch Bestandteile des kulturellen Lebens, wie sich Mick Franke erinnert, der später in der Gruppe Fiedel Michel Bahnbrechendes für das deutsche Folkrevival leisten sollte: „Heute, 1998, wird in den meisten deutschen Familien kaum noch gesungen, aber zu meiner Zeit war das eigentlich kein Thema. Meine Mutter, meine Oma, die Nachbarn, alle kannten dieselben Lieder, und die wurden auch regelmäßig gesungen. Natürlich war das Repertoire nicht besonders breit gefächert, aber es gab Schlaflieder, Wanderlieder, Lieder zum Feiern – und so’n Ding wie Lauf, Müller, lauf! kannte ich schon mit fünf Jahren.“ Der Historiker Peter Brandt erinnert sich an Geburtstage in den 1950er Jahren: „Bei diesen Festen wurde hauptsächlich gesungen: Volks- und jugendbewegte Lieder, Arbeiter- und Spottlieder, und der Ehemann von Vaters Cousine …, der als Student wohl einer schlagenden Verbindung angehört hatte, erweiterte dieses breite Repertoire noch um das Liedgut des Deutschen Kommersbuches.“ Und als die Zeitschrift Sounds 1978 die deutschen Folkszene beleuchtete, stellte Autor Manfred Gillig einleitend erst einmal fest: „Bei uns zu Hause wurde viel gesungen. Es war eine kleinbürgerliche ambitionierte Arbeiterfamilie in einer oberfränkischen Kleinstadt der fünfziger Jahre. Und was wurde da gesungen? Ich erinnere mich an viele Lieder. Zum einen waren es Schlager, in denen die Trapper von Alaska unter dem Weißen Mond von Surabaya im Alten Försterhaus (dort, wo die Tann’n stehen) den River-Kwai-Marsch pfiffen. Dann gab’s noch ein paar Moritaten zu singen und viele, viele Weihnachtslieder (Oma konnte alle Strophen), und schließlich waren da noch ein paar Kirchenlieder und Mundartlieder.“ Er fuhr dann aber auch fort: „Die alte deutsche Volksliedtradition, mit der unsereiner in der Schule erst so richtig bekannt gemacht wurde, ließ mich immer kalt. Das war etwas wie die Blasmusik der fetten asthmatischen Biersäufer in ihren Trachtenhemden – dort am Brunnen vor dem Tore gab es noch die wohlfeile Ordnung der Männergesangsvereine und schulischen Musikerzieher, die ich nie kennengelernt hatte.“ Vor denen grauste es auch Thomas Kagermann (Fiedel Michel u.a.): „Ich kann mich erinnern, dass in meiner Familie Volkslieder gesungen wurden, aber ganz anders, als wir das später brachten.“ Wie bei Ulrich Doberenz in Leipzig: „In der Jugendzeit hat man sich natürlich davon distanziert, aber später, als wir mit den Folkländern deutsche Lieder gesungen haben, kamen viele davon wieder hoch, und da fand ich sie auf einmal auch richtig schön.“

Es wurde also gesungen in den 1950er Jahren. Dennoch hält sich hartnäckig die These, das deutsche Volkslied sei durch die Machenschaften der Nazis unsingbar geworden: „Auf welcher Grundlage hätte man damals eine neue, gesamtgesellschaftliche Musikkultur aufbauen können? Das nationale, bündische und folkloristische Liedgut war durch die Nationalsozialisten total korrumpiert worden. Diese Art von Musik gab also nach 1945 keine Basis für eine wahrhaft populäre Musikkultur mehr ab.“ (Jost Hermand) Doch stimmt das nur bedingt. Keine Frage – die Nazis hatten sich das Volkslied unter den Nagel gerissen und durch ihren ideologischen Reißwolf gedreht. „An alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnahe, volksfremd, volksentstammt“, notierte Victor Klemperer 1933 in seine Tagebücher. Der Begriff „Volk“ wurde beim Reden und Schreiben verwendet wie Salz beim Essen. Was manchen arg gut schmeckte: „Mit dem Einfließen in die politische Neuordnung unseres Volkes schließt sich der Kreis der Volksliedbewegung. Es wurde ihr das günstige Schicksal zuteil, dass in dem Augenblick, als ihr gedankliches Gebäude sich vollendete, von der Führung des Volkes alle äußeren Voraussetzungen geschaffen wurden, um dieses Denken auf die Lebensgestaltung des Gesamtvolks anzuwenden“, jubelte 1939 systemkonform der Lehrer Rudolf Scharnberg, der nach dem Krieg eine Karriere als Schulrat in Hamburg antreten sollte. Später wäre vielen vor allem der Spruch von Fußball-Weltmeister Andreas Brehme in den Sinn gekommen: „Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß.“ Das Zeppelinfeld in Nürnberg wird seine Historie als Reichsparteitagsgelände der NSDAP nicht los und hat ebenso wie das Hitler-Geburtshaus in Braunau am Inn oder das Volkslied eine Konnotation zum deutschen Faschismus, zum Braunen, und damit buchstäblich zur „Scheiße“. (Bemerkenswerterweise betraf das nicht die deutsche Klassik: Die Nationalsozialisten instrumentalisierten auch Beethoven und andere Komponisten, aber diese Werke wurden nach dem Krieg nicht mehr mit den Nazis assoziiert. Eine Ausnahme bildet Richard Wagner, der als glühender Antisemit und vergöttertes Idol von Adolf Hitler bis heute ein Idealfall für die Frage ist, inwieweit man bei Künstlern Person und Werk trennen kann bzw. soll. Nach 1945 versuchten gerade E-Musik-Komponisten, dem bei den Nazis so sehr geförderten Gefühl und Pathos einen rationalen Ansatz entgegenzusetzen, teils bewusst als Unverständlichkeit in der Neuen Musik, die sich leichter jeglichem Vereinnahmungsversuch entzog und die ja schon bei den Nazis als „entartet“ gegolten hatte.) Jedenfalls konnten weder Gelände noch Gebäude noch Lied etwas für ihre zeitweise Nutzung. Hätte „diese Art von Musik“ dennoch nach 1945 eine Basis abgeben können? Hemmschwellen im Umgang mit der eigenen Tradition nahmen in den 1950er Jahren eher zu. „Die Nazis haben das Volkslied oder die Idee des Volkslieds sehr stark als Gegenpropaganda gegen die künstlerische Moderne, gegen die Avantgarde verwendet. Von daher war nach dem Krieg, nach dem Fall des Dritten Reichs, als wieder die Möglichkeit bestand, künstlerisch modern zu arbeiten, das Volkslied der Inbegriff des Gestrigen, wenn nicht des Vorgestrigen.“ (Eckhard John 2010) Gleichzeitig wurde durch die Massenmedien, die nicht nur eine nationale, sondern zunehmend eine globale Verbreitung ermöglichten, der Begriff „populär“ – der ja nichts anderes als „volkstümlich“ bedeutet – neu interpretiert: Populär war es, in Englisch zu singen – Pop eben. Deutsch als Sprache war steif, langweilig. Dazu kam: Passives Konsumieren löste langsam aktives Machen ab. Was die Nazis sicherlich vergällt haben: die Lust am Singen in der Gemeinschaft. Unsicherheit kam dazu: Welches Lied durfte man quasi gefahrlos singen, welches nicht? „Für den einen kann das Lied die ideologische Besetzung bereits verloren oder, wenn er jung genug ist, nie gehabt haben, für den anderen trägt es noch die ideologische Besetzung“, erklärte Ernst Klusen und arbeitete gleichzeitig heraus, dass manches Lied weniger durch den Text als durch seinen Gebrauch kontaminiert war. Manchen, auch Jugendlichen, fiel es schwer, sich durch Singen – gerade im Ausland – als Deutscher zu outen, und nicht zuletzt galt gerade für die Jungen deutsches Lied angesichts von Jazz und später Rock’n’Roll als uncool – was es natürlich auch war, vergleicht man die Hits der Zeit wie Fred Bertelsmanns Lachender Vagabund mit Elvis Presleys Jailhouse Rock. (Wie sehr die deutsche Sprache das Image des Unmodernen bzw. Uncoolen bis heute nicht abgelegt hat, sieht man an der willfährigen Übernahme englischer Worte in den aktuellen Wortschatz – bis hin zur Eigenkreation ‚englischsprachiger‘ Worte [s. Handy]. ‚X ist englisch, und englisch ist modern‘, pflegten West-Eltern in den 50er und 60er Jahren zu sagen, und daran hat sich nichts geändert.) Amerikanische Musik war „Gegenkultur zu süßlichen Klängen der heimatschwülstigen Rückzugsideologie der Elterngeneration, die nach den Entbehrungen und Härten der Kriegszeit sich in die Behaglichkeit und Sicherheit ihres neuen Heims einnisteten.“ (Hans-Günther Vogel) Mithin konnten weder die Alten noch ihre Musik als Vorbilder taugen: „Nach dem Ausmaß der Katastrophe, die hinter uns liegt, kann es nicht zu einer Traditionsorientierung kommen; die Tradition war gerade das, was durch die nationalsozialistische Herrschaft am nachhaltigsten zerstört wurde, und es war zuvor schon eine höchst problematische Tradition geworden.“ (Alexander und Margarete Mitscherlich) Also schauten sich die Jugendlichen auf der Suche nach den Freiräumen, mit denen sie sich von den Eltern und anderen Autoritäten abgrenzen konnten, anderswo um. Wo konnten sie suchen? Dort, wo die Massenmedien ihnen ein Angebot machen. Wie sollten sie sonst auch Alternativen kennenlernen?

Ostermärsche

Nun waren auch die Nierentisch-Jahre keine unpolitischen – die Waldeck als (volks-)musikalischer Jungbrunnen und „1968“ als politische Chiffre kamen nicht einfach über die Gesellschaft, sondern hatten natürlich eine Vorgeschichte. Zu dieser gehörten 1955 vielfältige, wenngleich gescheiterte Proteste gegen die Wiederbewaffnung und vereinzelt 1957, massiv dann 1958 Aktionen gegen die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr: „Mitte April 1958 protestierten in Hamburg mindestens 120.000 Menschen – mehr, als später die APO je an einem Ort mobilisieren sollte.“ (Norbert Frei) Hanns Dieter Hüsch schrieb dazu seine Vier Gesänge gegen die Bombe (Carmina Urana), und ab 1960 kamen weitere aktuelle Protestlieder dazu. Der erste CND March (CND = Campaign for Nuclear Disarmement) hatte 1958 in England stattgefunden; zwei Jahre später marschierten zu Ostern auch Friedensfreunde in Deutschland: etwa eintausend Rüstungsgegner von Hamburg zum Raketenübungsplatz Bergen-Hohne. „Frieden“ galt damals in der BRD als kommunistisches Schimpfwort. „Stärker als die Anti-Atomtod-Bewegung speiste sich die Ostermarsch-Bewegung aus einem diffus-linken, parteipolitisch weitgehend ungebundenen, nicht zuletzt religiös motivierten Pazifismus; ihr erster Sprecher war ein Hamburger Quäker [Konrad Tempel; Anm.d.Verf.]. Zwar wuchs die Zahl der Ostermarschierer von Jahr zu Jahr (1966 sollen es schließlich 150.000 gewesen sein), aber wichtiger als die Menge der Mobilisierten war wohl ihr performatives Beispiel: der persönlich zum Ausdruck gebrachte, gewaltlose Protest (‚Haben Sie Vertrauen in die Macht des Einzelnen‘), die neuen Rituale, die international gebräuchlichen Zeichen und Symbole – und die Fähigkeit, als außerparlamentarische Bewegung aus eigener Kraft zu bestehen. Das alles sollte Schule machen, wenn auch erst auf mittlere Sicht.“ (Norbert Frei)

Schon 1960 wurden „die ersten Lieder, welche die westdeutschen Ostermarschierer sangen, … weitgehend von den englischen Ostermarschierern übernommen … Alle diese Lieder waren höchst eingängig, das heißt von vornherein zum Mitsingen gedacht. Manche von ihnen zündeten so schnell, dass der Düsseldorfer pläne-Verlag bereits 1962 die ersten Schallplatten davon herausbringen konnte. Doch sonst regte sich in diesen Jahren noch wenig oder gar nichts von dem, was man als populäre und zugleich kritisch engagierte Musik bezeichnen könnte.« (Jost Hermand)

Das vielleicht bekannteste Lied der Atomwaffengegner schrieb der Kabarettist, Kabarettautor und Liedermacher Hannes Stütz: Unser Marsch ist eine gute Sache.

Unser Marsch ist eine gute Sache,
weil er für eine gute Sache geht.
Wir marschieren nicht aus Haß und aus Rache,
wir erobern kein fremdes Gebiet.
Unsere Hände sind leer,
die Vernunft ist das Gewehr,
und die Leute versteh’n unsere Sprache:

Marschieren wir gegen den Osten? Nein!
Marschieren wir gegen den Westen? Nein!
Wir marschieren für die Welt,
die von Waffen nichts mehr hält,
denn das ist für uns am besten.

Vor allem Fasia Jansen und Dieter Süverkrüp trugen mit den Liedern, die bei den Ostermärschen gesungen wurden, das politische Anliegen auch zu Menschen, die nicht selbst mitmarschiert waren. Walter Moßmann hob allerdings 2014 warnend einen Finger: „Mir geht das immer zu glatt mit der Genealogie Ostermarsch – Folkrevival – Friedensbewegung. Unsere generationsspezifischen Themen waren damals: Kriegsdienstverweigerung, Umgang mit den erziehungsberechtigten Altnazis, die Atombombe, Doppelmoral und sexuelle Unterdrückung etc. Aber die Antwort ‚Ostermarsch‘ war durchaus umstritten. Begründeter Verdacht der Instrumentalisierung. Der Preis für die Gemeinsamkeit von Pazifisten und Moskau-Kommunisten beim Ostermarsch: das Schweigen über die Diktatur der SED. Die Ostermarschlieder kamen allesamt aus der Küche der DKP (Semmer, Stütz, Fasia, Süverkrüp etc.), nicht mein Geschmack. Renitent habe ich 1967 bei der Abschlusskundgebung des Ostermarsches in Frankfurt gesungen, aber dann protestiert, als der Text in der DDR verschiedentlich nachgedruckt wurde, z.B. im Eulenspiegelverlag 1968 (Protestsongs) mit einer hanebüchenen Erklärung, warum Protest gegen Militär nur im Westen ginge, in der DDR aber nicht benötigt werde. Ich hatte gefordert, dass auch Biermanns Soldat, Soldat in die Anthologie aufgenommen werde. Die Stimmung auf der Waldeck jedenfalls damals (60er Jahre) war noch ausgesprochen SED-kritisch.“

Musikalisch rumorte es, dank Elvis und später den Beatles, und auch die Filmschaffenden wollten mehr Tiefe wagen: Am 28. Februar 1962 verabschiedeten sie anlässlich der Kurzfilmtage das Oberhausener Manifest, eine Erklärung, die die Erneuerung der damals desolaten westdeutschen Filmproduktion und den Anspruch der Kurzfilmregisseure unterstrich, einen neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Filmhistoriker sehen dieses Datum als die Geburtsstunde des Jungen deutschen Films und damit auch der gesellschaftspolitischen Trendwende in der bundesdeutschen Filmkultur nach dem 2. Weltkrieg. Papas Kino war tot, und bald sollte es auch Muttis Musik an die Plattenarmnadel gehen.

Es war eine politische Phase, die Träume ermöglichte, von der Mondfahrt ebenso wie von einer gerechteren Welt, einer Welt ohne Kriege und ohne Rassentrennung. Und es war eine Phase, in der Fragen gestellt wurden – in Westdeutschland nach der Vergangenheit, vor allem zur Vergangenheit eines sich elendig lange zwölf Jahre haltenden Tausendjährigen Reichs, unbequeme Fragen, die zwanzig Jahre lang nicht gestellt worden waren. Der „Muff von tausend Jahren“ lag auch auf den (fast gleichaltrigen) Liedern, deren Ideal sich von „heiler Welt“ (Jugendbewegung) über „heile Welt“ (Nazi-Zeit) bis „heile Welt“ (BRD-Nachkriegszeit) bemerkenswert wandlungsresistent gezeigt hatte. Der neue Wind fegte auch sie hinweg; die Gesellschaft teilte sich – bzw. wurde, kommerziell geschickt gesteuert, geteilt – in eine kulturell konservative und eine kulturell progressive. Letztere, so U-musikalisch orientiert, hörte Beat und Rock: „Der Beat trennte uns von den Eltern, er gab uns Identität, er gab uns Ausdrucksmittel – er machte das UNS. In aller Vereinzelung schaffte der Beat die Gemeinsamkeit, den Zusammenhang, das Wir-Gefühl derer, die die gleiche Musik liebten, die Haare lang trugen, das gleiche Feeling hatten, unter der gleichen Verachtung litten. Der Beat wollte nur uns, die Jugendlichen ansprechen, er war nicht für alle, nicht für die Eltern, die Alten, die Reaktionäre, die Gefühllosen und auch nicht für die Pfadfinder, die ordentlichen Kinder, die mit ihren Eltern Hausmusik machten, die nicht neugierig waren auf die Wirkung des Alkohols, die Bügelfalten in den Hosen hatten und auf den Köpfen kurze Haare … [E]rst der erbitterte Kampf der Alten machte den Beat zum Ausdruck und zur Identität GEGEN die Alten, die Bürger, die anderen.“ (Dieter Jaenicke) Einige der so geprägten Jugendlichen begannen, sich für die alten Lieder eine Interpretation zu suchen, die diese Erfahrungen einschloss und so einen Umgang mit der Tradition abseits von Tümelei und Schlagerschmalz ermöglichte. Daraus folgte auch nahezu zwangsläufig, dass die sich entwickelnde Folkbewegung eine Jugendbewegung war: Ältere Musiker spielten so gut wie keine Rolle.

Die Festivals auf Burg Waldeck

Doch bis es zu einer ernsthaften Neuaneignung der deutschen Liedtradition kam, sollte noch ein weiteres Jahrzehnt vergehen. Die sangesfreudigen Wandervögel, die 1964 auf die pfälzische Burg Waldeck zum ersten Festival Chansons Folklore International luden, kamen vom französischen Chanson und vom amerikanischen Folksong. „Der unmittelbare Anstoß war, dass wir gehört haben, es hat sich an der Universität von Kalifornien in Berkeley ein Free Speech Movement gebildet gegen die damalige amerikanische Hochschul- und auch sonstige Politik und dass diese Bewegung, der Beginn der weltweiten Studentenbewegung, sehr stark auch eine musikalische Bewegung war. Und dass es hieß: In Amerika ist die Anwesenheit einer Gitarre in einer Gruppe von jungen Menschen schon ein Verdachtsgrund, der die Polizei zum Einschreiten bewegt. Und da haben wir gesagt: Gitarren haben wir auch, und singen können wir auch, und wir wollen versuchen, einen Treffpunkt zu machen, wo alle die, die etwas Ähnliches wollen in Mitteleuropa, sich treffen können. Und da wir das Gelände, welches ja ein altes bündisches Gelände ist, zur Verfügung hatten und uns dort zu Hause fühlten, haben wir gesagt: Wir fangen jetzt mit diesem Gelände etwas anderes an.“ (Diethart Kerbs 1983)

„Ich schrieb dann im November 1963 einen dreiseitigen Brief an einen engeren Freundeskreis, in dem ich das Konzept des Festivals entwarf und dem Verwaltungsrat der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) vorstellte. Die Idee zündete und wurde – statt wie von mir vorgeschlagen 1965 – schon zu Pfingsten 1964 realisiert. Es bildete sich ein Dreierteam mit Peter Rohland, Jürgen Kahle und meiner Wenigkeit. Peter Rohland sprach die Sänger und Musikanten an, Jürgen Kahle schaffte mit wenigen Helfern in einem halben Jahr … die gesamten technischen Voraussetzungen, und ich war für Konzeption, Organisation und Presse zuständig.“ (Diethart Kerbs 2004) Silvester 1963 stieß noch Rolf Gekeler zum vorbereitenden Dreigestirn, der dem geplanten Ereignis auch gleich einen Namen gab (und nach dem frühen Tod Peter Rohlands die alleinige künstlerische Leitung übernahm): „Da hatten wir also die Idee, wir müssten andere Gruppen aus europäischen Ländern einladen. Wir wollten … einen Sangeswettstreit auf der Waldeck machen …, einen Wettstreit mit anderen Völkern, das heißt, wir wollten eine Begegnung machen des europäischen Liedgutes.“ (1983)

Ein solches Festival lag in der Luft, wie Oskar Kröher zugeben musste: „Wenn wir’s nicht gemacht hätten, hätten es andere gemacht.“ Und sie machten. Erstmals zwischen dem 15. und 21. Mai 1964, und dann jährlich immer zu Pfingsten bis 1969, weil sie fanden, „dass eine bestimmte Art von Musik, für die wir eine ganz besondere Vorliebe haben, in Deutschland längst noch nicht genug beachtet und gepflegt wird. Wir meinen das Chanson, den Bänkelsang, die unverkitschte Volksmusik. Wir haben uns gefragt, warum wir in unseren Breiten keinen Yves Montand oder Georges Brassens, keinen Pete Seeger und keine Joan Baez haben. Wir möchten gerne herausfinden, welche Möglichkeiten das Chanson bei uns hat oder haben könnte“, definierte Diethart Kerbs in seiner Eröffnungsrede 1964 das Ziel und fuhr fort: „Weder Freddy Quinn noch Maria Callas weilen heute unter uns. Wir haben sie aus gutem Grund nicht eingeladen. Dieser Grund hat eine musikalische und eine soziologische Seite. Ihr Gesang, den wir an seinem Ort wohl zu würdigen wissen, scheint uns jedoch nicht recht in die Umgebung von Moritat und Bänkelsang, von jiddischer und jugoslawischer Folklore, von Brecht-Chansons und Atombombensong zu passen. Das heißt, die reine Volksmusik und das reine Kabarett sprengen den Rahmen dieses Treffens noch nicht, der reine Schlager und der reine Kunstgesang, die Opernarien, würden ihn sprengen. Damit ist auch schon mehr auf die soziologischen Momente hingewiesen; es gibt eine Art von Gesang, die mit großen, anonymen Zuhörermassen zu rechnen gewohnt ist (ohne dass damit etwas Nachteiliges über die musikalische Qualität ausgesagt werden soll), und es gibt eine andere Art, die – so glauben wir – mehr auf ein überschaubares, individuell ausgeprägtes und Antwort gebendes Publikum angewiesen ist. Dieses Publikum und diese Musik sollen hier einen Treffpunkt und eine Heimat finden.“

Veranstalter war die (eher linke) Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck, die mit dem anderen Burgherren, dem rechtskonservativen Nerother Wandervogel, im Clinch lag, wie sich auch an Programmatik und einigen Begebenheiten während der Festivals zeigte: „Den Nerothern war es natürlich ein Dorn im Auge, wenn sich diese langhaarigen jungen Männer und leichtgeschürzten Mädchen in kurzen Hosen oder im Badeanzug in die Sonne legten. Und auch die Musik, die die Festivals auf die Waldeck brachten, entsprach nicht gerade dem bündischen Horridoh und den alten Werten von Keuschheit, Vaterlands- und Gefolgschaftstreue. Kein Wunder, dass es im Laufe der Jahre immer wieder zu Störungen von rechts kam: Da wurden Lichtkabel und Wasserleitungen zerstört, Autoreifen zerstochen und 1968 unter großem Gejohle eine rote Fahne als Zeichen der unerwünschten Konkurrenz auf der Waldeck verbrannt.“ Dabei blieb es jedoch nicht: Gebäude wurden angezündet, eine Bühne in die Luft gejagt. Und auch wenn die Nerother die Beteiligung daran teils zumindest abstritten – geistige Brandstifter waren sie allemal, denn „was mein Bruder und ich geschaffen haben, das wollen diese Folklore-Menschen, diese Gammler mit ihren Mädchen, entweihen“, zitierte der SPIEGEL (30/1969) Karl Oelbermann.

Dabei kamen die meisten ABW-Aktivisten und auch Liedermacher aus dem Kreis der bündischen oder der Pfadfinderjugend: Franz Josef Degenhardt (Fahrtenname Karratsch), Heinrich (Hein) und Oskar (Oss) Kröher, Christof Stählin, Lothar Lechleiter (Black), Peter Rohland (Pitter) oder Walter Moßmann fühlten sich allerdings ebenso wie Eckard Holler, Martin Degenhardt, Journalist Tom Schroeder, der Lehrer, Waldeck-Mitmacher (1969) und spätere Festivalorganisator und Plattenproduzent Carsten Linde (Irish Folk Festival, FolkFreak, Wundertüte) oder der zukünftige Agent Siegfried Maeker (Maekkes) mehrheitlich der als kritisch bis oppositionell charakterisierten Deutschen (Autonomen) Jungenschaft vom 1. November 1929, kurz dj. 1.11, zugehörig. Dieser von Eberhard Koebel, genannt tusk, gegründete reine Jungenbund propagierte vor allem den Anspruch, vollkommen unabhängig zu sein: Die Jungen sollten als Selbsterringende handeln, also Neues selbst gestalten, und nicht als Wiederholende, die bereits Vorhandenes nachmachen. Diesem Selbstverständnis folgend, richteten sich die Jungenschaften anders als andere Gruppen ihrer Zeit an der Moderne und ihrer Ästhetik aus. Kein Wunder also, dass die Kröhers auf der Waldeck kein Festival veranstalten, sondern ein „Bauhaus der europäischen Folklore“ errichten wollten. Schon Anfang der 1930er Jahre tendierte der dj. 1.11 nach links. Eberhard Koebel, ein Jahrzehnt zuvor noch Hitler-begeistert, trat denn auch der KPD bei, was den Bund aber nicht davon abhielt, einen einvernehmlichen Sonderweg mit der Hitlerjugend zu suchen. Zum dj. 1.11 gehörten Hans Scholl und Willi Graf (von der Weißen Rose); spätere prominente Mitglieder waren Klaus Kinski und Bernhard Wicki. Walter Moßmann „erinnert sich an dj.-1.11-Gruppen, die – mitten in der Zeit des Kalten Krieges – Marx diskutierten und sich mit Niemöller-Lektüre geschlossen auf Kriegsdienstverweigerung vorbereiten. Damals ‚konnten wir … die Lieder und die dazugehörige Erfahrung der amerikanischen Anti-Kriegs-Bewegung, der Bürgerrechtler und Gewerkschafter kennenlernen, die Lieder der italienischen Linken, die Lieder aus dem KZ … und auch die völlig unterdrückte Tradition deutscher demokratischer Volks- und Revolutionslieder, vor allem aus dem Vormärz und von 1848/49. Und es war der bündische Waldeck-Sänger Peter Rohland, der sich mühsam aus Steinitz und Volksliedarchiven diese Sachen zusammengesammelt hat.‘“ (Gisela Probst-Effah; Walter Mossman/Peter Schleuning)

In diesem Geiste hatte Diethart Kerbs schon in seiner Eröffnungsrede 1964 angekündigt, „auf der Waldeck herrscht – in den Grenzen des Taktes und der minimalen Menschlichkeit – die absolute Meinungsfreiheit und Toleranz“, und sich gewünscht: „Bitte lassen Sie uns hier keinen Naturschutzpark für das Chanson einrichten und auch kein Folklore-Reservat, womöglich noch mit Fahnenschwenkern oder Trachtengruppen“. „Gammlertreffen auf Burg Waldeck“ urteilte ob solcher freigeistigen Tendenzen ein Teil der aufgeschreckten braven deutschen Journaille. Dabei dominierte der Widerspruch zwischen schönem und engagiertem Lied die ersten Festivals: Christof Stählin und Michael Wachsmann sangen feinste Lyrik aus dem elisabethanischen England und dem deutschen Barock, Fasia Jansen schrie dagegen mit „Dynamit in der Kehle“ (Hotte Schneider) die aktuellen Lieder der Ostermarschierer heraus: „Protest muss gesungen werden“, befand sie und wunderte sich, dass das Publikum diese Texte gegen Wiederbewaffnung, Atom(bomben)versuche und Militarismus nicht kannte. Ein breites Spektrum fürwahr.

In Workshops wurde immer wieder die Frage diskutiert, was ein Lied oder Chanson oder Folksong sei. „Der Chansonnier“, so Peter Rohland, „auch der Volksliedsänger, will seinem Publikum etwas sagen – von rein gefühlsbetontem Gesang hat er nichts, selbst ein ‚rein‘ lyrisches Chanson ist ohne intellektuelle Interpretation ein Unding. Chansons, ja selbst Volkslieder, dürfen wir heute nicht mehr unreflektiert singen.“ Eckard Holler, später Kopf von Festivals in Tübingen, äußerte schon früh seine Überzeugung: „Die Verbindung eines rationalen und eines affektiven Moments im Chanson ist geradezu prädestiniert, intellektuelle Unzufriedenheit zu artikulieren, d.h. politische Kritik zu üben.“ Doch kam man nicht zu einer alle Seiten befriedigenden Definition. 1967 stand das Festival dann schon unter dem Titel „Das politische Lied“, von dem Diethart Kerbs, der wie immer den Eröffnungsvortrag hielt, sagte, es tauge „nicht zum ‚Herrscherlob‘, d.h. es taugt nicht zur Akklamation der bestehenden Machtverhältnisse, sondern es stellt in Frage, es zweifelt, es klagt an, artikuliert Ängste und Hoffnungen, es weckt und hält wach den Wunsch nach Veränderung.“ Solche Veränderung forderte und bejubelte denn auch die Presse: „Das Schnulzenbegräbnis findet in Deutschland doch statt“ war da zu lesen, denn „endlich haben wir ein gutes Folk-Festival. Auf der Burg Waldeck entstand ein deutsches Newport.“ Und Franz Josef Degenhardt sekundierte (2008): „Die änderten sich, die Festivals, einfach weil sich in unserem Lande etwas änderte. Es begann ja dann die Revolte 67/68, und das drang dann natürlich auch in die Festivals ein – sehr zum Vorteil übrigens: Es gab von Anfang an zwei Linien; wer das deutsche Lied kennt, weiß, dass es diese zwei Linien immer gegeben hat, die einige in sich vereint hatten wie Müller in seiner Winterreise zum Beispiel, was man aber nur verstehen kann unter den Vormärz-Bedingungen. Es gab immer eine Linie, die gesagt hat, wir wollen uns fern halten von den plakativen politischen gesellschaftlichen Themen; unser Lied – und das war fast die führende Linie auf der Waldeck – geht doch mehr zur Poesie, was immer ein Bourgeois darunter verstanden hat. Und über 67/68 kam dann richtig knallartig Politik, das Gesellschaftliche herein. Und da merkten auch die Anhänger dieses naturlyrischen, so genannten poetischen Liedes, dass das ja gar nicht trennbar ist, dass Poesie und Politik, Gesellschaftlichkeit zusammengehören. Und das hat der Entwicklung dieses Liedermacherliedes, so nenne ich es jetzt mal, sehr gutgetan.“

Die Zuschauerzahlen auf der Waldeck waren übersichtlich: „Das sind zwar beim ersten Mal nur wenige Hundert gewesen, wurden dann wenige Tausend, aber diese wenigen Tausend wurden dann in einer zuvor kaum dagewesenen Weise von den Medien verstärkt. Das ist sehr stark aufgegriffen worden. Und man darf nicht vergessen, dass das, was auf der Waldeck formuliert wurde, doch auch etwas war, das von vielen Intellektuellen in den Medien empfunden wurde und sehr stark auf Resonanz stieß. Ohne dass eine gesellschaftliche Entwicklung sich anbahnte, die mit ‚68‘ verbunden ist, wäre die Breitenwirkung der Festivals wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Die katalysatorische Funktion der Waldeck scheint mir sehr wichtig zu sein.“ (Holger Böning) Und die katharsische auch: „Wir wussten damals“, so Hein & Oss Kröher, „der Muff der fünfziger Jahre, der war damit unwiderruflich weg.“

Nach den schon stark politisierten Anfängen 1967 folgten ein Jahr später Zuschauer wie Künstler dem Imperativ Degenhardts Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf und forderten Diskussionen statt Kunst. Hanns Dieter Hüsch wurde mehrfach gestört und musste sein Konzert abbrechen – ein Erlebnis, das für ihn traumatische Züge annahm und auf das er später immer wieder zu sprechen kam; Rolf Schwendter, der Mann mit der Kindertrommel, zersang Reinhard Meys Und für mein Mädchen und warf dem Sänger faschistische Tendenzen vor. Für die Journalistin Annemarie Stern kam diese Entwicklung keineswegs überraschend: „Das war damals der Trend der so genannten Studentenbewegung, die sehr radikale Tendenzen überall hineinbrachte. Man muss das sehr deutlich sagen: Die traten auf mit dem Slogan, der knapp und einfach was Falsches sagt: ‚Kunst ist Scheiße‘. Und mit diesem Slogan gingen sie auf jede Bühne, ob das im Theater war oder eben bei Sängern, die von der Bühne agierten – Diskutieren war das Stichwort. Also die wollten nicht singen oder spielen oder so, sondern immer nur diskutieren.“ Am Prononciertesten artikulierte dies Eckard Holler, der ultimativ forderte: „Das Waldeck-Festival hat keine politische Bedeutung mehr. Es hat sich zu einer Tagung für singende Fachidioten entwickelt. Sänger werden bei revolutionären Aktionen nicht mehr benötigt. Bei Sit-in, Go-in, Teach-in wird nicht gesungen, sondern diskutiert in der Absicht der konkreten Aktion … Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!“ Walter Moßmann empörte sich: „Ich glaube, das Wort ‚benötigt‘ hat mich am meisten aufgebracht. Da bläst sich ein Provinzpädagoge zum Kulturkommissar auf und dekretiert mit einem spitzlippigen ‚ö‘, was benötigt wird und was nicht. Mag sein, dass der Unmusikalische keine Lieder benötigt. Ich benötige.“ Ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich Reinhard Mey: „Ich glaube, dass die, die Musik gemacht haben, nicht dieselben waren wie die, die die Sache nachher zerstört und ihr den Boden entzogen haben. [Das waren] Leute, die keine Musik gemacht haben. Durch sie wurde die Waldeck zu einem Festival der politischen Aussage. Das was war sicher auch interessant, aber nicht das Ding der Musiker … Es gab keine Diskussion mehr, es gab nur noch Bevormundung. Es hatte etwas Totalitäres. Schade, dass das Festival ganz zerbrochen ist. Aber sonst wäre es womöglich erstarrt, alt und hässlich geworden. Vielleicht war das … gar nicht schlecht für den Mythos Waldeck. Degenhardt ist gut damit klargekommen, weil er nicht nur ein brillanter Liederschreiber ist, sondern wahnsinnig gut auf die Argumente eingehen konnte. Er war den Zwischenrufern gewachsen. Alle anderen sind verstummt.“

Rolf Gekeler („Gockel“) gründete 1966 die Zeitschrift song, die erste „Zeitschrift für Chanson, Folklore, Bänkelsang“ in Deutschland – ein Vorgänger Lied, herausgegeben von Diethart Kerbs, Peter Rohland und Jürgen Köhler, war ein Jahr zuvor nach nur einer Ausgabe eingestellt worden. „Offenherzig, fremdenfreundlich, freisinnig, frech“ sollte sie sein, wurde im Editorial der ersten Ausgabe angekündigt, die zum Waldeck-Festival 1966 vorlag. Trotz prominenter Macher – Gertrude und Martin Degenhardt, Hanns Dieter Hüsch, Tom Schroeder, Ralf Schwendter, Carsten Linde, Reinhard Hippen oder Diethart Kerbs – hielt sich das Blatt nur drei Jahre: „Revolutionsattitüde als Geschäft war nicht die Begabung von Gockel“, stellte Arno Klönne fest. Rolf Gekeler stützte rückblickend (1996) die These, dass die progressive Subkultur von außen in die Waldeck-Festivals hineingetragen wurde, „weil der damalige SDS ‚Kulturrevolution in Deutschland‘ auf seine Fahnen geschrieben hatte. Und das kann man nur dort machen, wo Kultur passiert, und nur dort, wo Medien sind, und nur dort, wo Fernsehen ist … Und sie kamen alle auf die Waldeck, und wir ahnten als Veranstalter davon gar nichts. Bei einem Konzert von Hanns Dieter Hüsch wurde plötzlich die Bühne gestürmt und eine Vietcong-Fahne wurde vorneweg getragen … Die Rechnung ging völlig richtig auf: Das Fernsehen hatte das alles aufgenommen und in die deutsche bürgerliche Hausstube hineinkatapultiert, so dass plötzlich von dem sonst sehr friedfertigen und auch kräftemessenden Festival der große politische Eklat in die Stuben kam.“

Mehrere Künstler schlossen sich den Forderungen nach Diskussionen an, aber als sie dann auch noch eine Erklärung vorlegten, die „primäre Funktion [der Waldeck läge] darin, Teil der internationalen Widerstandszentren zu sein“, war das Schisma vorprogrammiert: „Die kritische ‚Toleranz jenseits aller Dogmatik und Unverbindlichkeit‘ schlug um in beispiellose Intoleranz und politische Feindschaft. Damit zerbrach das eigentliche Wahr- und Gütezeichen der Waldecker Lebensform, auf die wir alle so stolz waren.“ (Zen) Da reichte es auch nicht mehr, dass Happening-Künstler Otto Kobalek von der First Vienna Working Group noch ganz irdische Wünsche hatte. „Welche Genossin möchte noch vor der Revolution den Geschlechtsverkehr vollziehen?“ schrieb er auf einen Zettel, den er ans Schwarze Brett vor dem Säulenhaus heftete.

Doch die Lage war zu ernst: Zwar organisierte eine neue Veranstaltergruppe um Rolf Schwendter unter dem Titel Gegenkultur noch ein Festival im September 1969, doch nicht nur wegen der zahlreichen Rockmusiker (Guru Guru, Xhol, Tangerine Dream) war damit die Ära der Festivals auf Burg Waldeck zu Ende. Das Bedauern darüber hielt sich bei Franz Josef Degenhardt in Grenzen: „Solche Veranstaltungen haben einen Anfang und ein Ende. Irgendwann weiß man, geht das nicht weiter, das ist dann ausgereizt. Das hatte seine Zeit, es war eine wichtige Zeit, aber es musste dann auch aufhören.“

Bei den sechs Festivals traten nicht nur wichtige internationale Gäste auf – Odetta, Hedy West, Guy Carawan oder Phil Ochs aus den USA, der Drehleierspieler René Zosso aus der Schweiz, Coby Schreijer aus den Niederlanden, Lin Jaldati und Perry Friedman aus der DDR oder Heinrich „Hai“ Frankl mit seiner schwedischen Frau Gunnel, genannt Topsy –, sondern auch Vertreter von Musiken, die man zunächst nicht dem Chanson zurechnen würde, so der Flamenco-Gitarrist Hans-Herbert „Manolo“ Lohnes oder der Zigeunergeiger Schnuckenack Reinhardt. Und dann natürlich die deutschen Musiker, von Hans Rippert aus Berlin-Spandau, der als Pseudo-Russe Iwan Rebroff kommerzielle Erfolge feiern sollte, über Karl Wolfram, der sich dem Minnelied verschrieben hatte, dem Rocktheater Floh de Cologne, dem Blödelquartett Insterburg & Co. oder dem KZ-Überlebenden Aleksander Kulisiewicz zu kurzzeitig bekannten Künstlern wie Kristin Bauer-Horn, Walter Hedemann, der Münchener Songgruppe oder den Conrads aus Gymnich, der ersten Gruppe, die Skiffle – Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre in Deutschland wie in England die Musik einer aufmüpfigen Jugend – mit politischem Lied verband. Es wurden aber auch Bewerber abgelehnt, bspw. im Vorfeld des zweiten Festivals: „Auch ein gewisser Udo Jürgens, der durch Züricher Kneipen tingelt, bewirbt sich. Seine mit Dschubidu-Chören hinterlegten Lieder wirken auf die Waldecker eher komisch, er bekommt einen freundlichen Absagebrief. Aus heutiger Sicht ist erstaunlich, dass alle eingeladenen Interessenten sofort den Non-Profit-Status akzeptieren. Keiner bekommt Geld.“ (Hotte Schneider)

Bemerkenswert ist angesichts der Prägung vieler der Protagonisten durch das französische Chanson die Abwesenheit gerade dieses Genres. Doch in Erinnerung bleibt „die Waldeck“ nicht nur als das erste deutsche Open-Air-Festival, sondern auch als Treffpunkt einer Zunft, die später (west-)deutsche Liedermachergeschichte geschrieben hat: Christof Stählin, Franz-Josef Degenhardt, Fasia Jansen, Hannes Wader, Reinhard Mey, Walter Moßmann, Dieter Süverkrüp oder Schobert & Black traten auf der Waldeck erstmals ins Scheinwerferlicht einer größeren, überregionalen Öffentlichkeit. Wie nicht anders zu erwarten, differieren ihre Erinnerungen an die Waldeck stark. Einige Beispiele:

Franz-Josef Degenhardt lobt in seiner Absage auf die Einladung zum 40. Geburtstagsfestival 2004 „das wirklich Neue damals, das die Liedermacherei, Song-Interpretation, Rezeption in der Folge formal und inhaltlich gründlich mitbestimmt hat. Dies durch: die Konkretisierung, Hereinnahme des aktuell Gesellschaftlichen, den gerichteten militanten Antifaschismus, die Kritik am idyllisch gemachten und dargebotenen Liedgut, am Romantizismus, der Skepsis gegenüber den traditionellen Liedformen überhaupt.“

Dieter Süverkrüp: „Es war unendlich grün und romantisch-verklärt und sehr idyllisch. Ich muss sagen, dass mir die Idylle ein bisschen auf den Wecker gegangen ist gleich zu Anfang. Das äußerte sich dann auch darin, dass ich, der ich ohnehin mit meinen politischen Liedern dort einbrach wie die Wildsau in den Porzellanladen, dass ich das dann auch noch prononcierte und ein bisschen provozierte. Mit dem Erfolg, dass sofort eine große Grundsatzdiskussion in der ganzen Waldeck vom Zaun gebrochen war. Die wurde offiziell geführt unter dem Titel Poetisches oder kabarettistisches Chanson; in Wirklichkeit meinte man aber das private, persönliche, subjektive Lied, das sich nur darauf beschränkt, oder aber das politische Lied. Mindestens am ersten Tag war ich damals der einzige, der politische Lieder sang, am nächsten Tag kam dann, glaube ich, die Fasia dazu. Aber wir waren durchaus eine kleine, radikale Minderheit. Und eine starke Spannung zu diesem Umfeld Waldeck hat es bei mir immer gegeben, weil ich der Meinung war, dass man zwar Workshops durchaus irgendwo in der Klausur machen könne, aber doch eigentlich mit solchen Sachen, wie sie dann zur Diskussion gestellt wurden oder wie sie auch gemacht worden sind, unters Neonlicht in die großen Städte gehen sollte.“

Fasia (Jansen) erinnert sich, dass sie und Dieter Süverkrüp „ins Fettnäpfchen“ traten: „Die Kollegen auf der Waldeck waren hin- und hergerissen. Einerseits fanden sie das schrecklich, dass wir uns mit Politik beschäftigten, andererseits waren sie auch fasziniert, was Dieter mit den Texten machte, und bei mir über die Stimme. Jedenfalls haben wir zum Nachdenken angeregt, es war Schluss mit der puren Romantik, und auch diejenigen, die dort Arbeiterlieder sangen, hatten es nun etwas schwieriger, weil da nun Leute kamen, die direkt in einer Bewegung arbeiteten und nicht nur in Clubs sangen.“ In der Tat: Die meisten, die da Arbeiterlieder sangen, waren wie die protestierenden Studenten und die meisten Liedermacher dieser Jahre weit weg von der Arbeitswelt. Gelegentliche Aktionen an Fabriktoren änderten daran wenig – die Demokratisierung der Universitäten war kein Anliegen der Arbeiterschaft, und beim Thema Vietnam stand letztere aus Dankbarkeit über die Hilfen direkt nach dem Weltkrieg eher auf Seiten der US-Amerikaner: Es klafften Lücken in Anliegen, Sprache und Lebensentwurf. Da war die Fabrikarbeiterin Fasia Jansen eine Ausnahme, was eigene Erfahrungen anging.

Walter Moßmann (1983): „Es war ganz toll, was für ein Platz die Waldeck eine Zeitlang war, was es sonst nirgends gab, wo man Liedermacher kennenlernte konnte, politische Traditionen, nicht-politische Traditionen, solche von Volksmusik, das gab’s nirgends in der Bundesrepublik. Ein paar Jahre war das wirklich der Platz, wo man ungeheuer viel kennenlernen konnte.“

Hanns Dieter Hüsch: „Nach zwei Tagen merkte ich erst, wie sehr doch alles, von einigen Ideologen abgesehen, absolut freiheitlich war und wahrhaft ohne Prinzipien und Regeln vor sich ging, dass eben die Revolte neben der Lyrik zu Worte kam, die Parodie neben der Kritik, das ganz Alte neben dem ganz Neuen, der introvertierte Poet neben dem lärmenden Bänkelbruder, und die Gesangsfarben von Hein und Oss Kröher.“

Black: „Es wurde, glaube ich, auf der Waldeck zum ersten Mal hoffähig gemacht, dass man Lieder in Deutsch, und zwar gute Lieder in Deutsch singen kann. Man musste nicht immer in Englisch oder in Französisch singen.“

Iwan Rebroff: „Meine Erinnerungen sind sehr zwiespältiger Natur. Einmal muss ich sagen, ist dieses Waldeck ein traumhaft schönes Fleckchen Erde. Und es bietet sich geradezu an, Volksmusik zu machen. Das ist natürlich ein zwiespältiger Begriff geworden – schon wieder, denn leider hat sich im Laufe der Jahre in den Begriff ‚Volksmusik‘ hineingeschmuggelt ein bisschen Aggression – man glaubte progressiv zu werden und war’s im Grunde genommen gar nicht, man wurde einfach nur aggressiv. Ich bedaure, dass der kabarettistische, progressive, zum Teil sehr aggressive Text eine sehr große Rolle gespielt hat und die Musik eigentlich in zweiter oder dritter Position dann weiter sich hat entwickeln können. Ich habe mich immer gefragt: Wenn die so herrliche Texte machen, warum stellen die sich nicht hin und rezitieren? Warum muss man sich dann an einem Gitarrenhals festhalten und rumklimpern – rezitieren Sie doch mal!“

Hannes Wader: „Ich kam da hin und war vollkommen überwältigt von dieser Stimmung und von den Liedern, die die Leute da sangen. Ich hörte zum ersten Mal Degenhardt, Süverkrüp und auch die ausländischen Kollegen wie Phil Ochs. Damals habe ich dann die entscheidenden Freundschaften geschlossen, die heute noch existieren. Dann durfte ich auch auftreten, denn ich hatte schon drei Lieder geschrieben. Auf der großen Bühne, vor zweitausend Leuten. Es war entsetzlich. Ich hatte noch nie vor so einer Menge Menschen gestanden. Dann gab es Tumulte und ich wollte von der Bühne springen, da haben sie mich nicht runtergelassen. Bis ich dann begriff, dass ich noch mal singen sollte. Ich sagte: ‚Ich habe doch keine Lieder mehr. Lasst mich doch hier runter! Ich habe doch nur drei Lieder.‘ ‚Ja, noch mal!‘ Dann musste ich dann ein oder zwei Lieder noch mal singen. Dann bin ich von der Bühne gesprungen, quasi geflohen, in den Wald. Habe fast einen Heulkrampf gekriegt. Ich dachte: ‚Was ist denn jetzt los?‘ Hinterher stellte sich raus, dass es mein Durchbruch war. Mit drei Liedern! Das ist die erste Erinnerung an die Burg Waldeck für mich. Es war eine entscheidende Situation für mich, für mein ganzes Leben.“

Reinhard Mey: „In meiner frühen Jugendzeit war ich oft in Frankreich und konnte auf diese Weise viel in französische Musik reinschnuppern. Ich habe mich immer ein wenig gegrämt, dass diese Musik, die ich zu Haus kannte, außer bei AFN, so was von piefig und rückschrittlich und peinlich war. Ich habe bis heute noch keine Erklärung dafür, denn bis heute ist es in weiten Bereichen immer noch so. Vor der Waldeck gab es die Sehnsucht, die Waldeck selbst war das Versprechen, etwas anderes zu machen als das, was an Schlagern und Tanzmusik aus dem Radio quoll …“

Jürgen Kahle: „Ich bin unheimlich stolz, welche kulturellen Entwicklungen sich aus diesen Waldeck-Festivals ergeben haben, wie eine ganz neue Art des Liedes entstand. Ich fand die Festivals in ihrer Zeit, auch nachher die Politisierung, für die damalige Zeitgeschichte außerordentlich wichtig.“

Franz Josef Degenhardt: „Die Waldeck-Festivals sind heute Legende. Das passiert häufig, wenn viele verschiedene Leute ein Ereignis erwarten, das sie dann einheitlich emphatisch sozusagen empfinden und erleben. So wie Pfingsten, und Pfingsten fanden ja diese Waldeck-Festivals statt. Diese Legendenbildung hat sicherlich auch damit zu tun, weil es für einige Künstler dort so etwas wie den Karrierestart gab, und zwar für so unterschiedliche Künstler wie Ivan Rebroff und Hannes Wader. Die Waldeck-Festivals waren aber vor allen Dingen Gegenfestivals, Gegenveranstaltungen zum damaligen Kulturbetrieb, zu diesem Kleinbürgermief in der Restaurationsepoche der Bundesrepublik, die vor allen Dingen auch auf der Ebene der Kultur gekennzeichnet war durch ängstliches Wohlverhalten, epigonenhaftes Dichten und Trällern und durch zynische Vergesslichkeit, was die letzte Zeit, nämlich die Nazi-Zeit, anging. Und auf die Waldeck kamen dann all die, die Wut darüber im Bauch hatten, die sie herausbrüllen und herausschreien wollten, und die Gewalt in der Kehle hatten. Auf den Waldeck-Festivals passierte dann etwas Interessantes, und das war eigentlich das Wichtigste, nämlich so etwas wie eine Renaissance des alten, deutschen, zeitbezogenen, populären, die Herrschaftsverhältnisse attackierenden Liedes. Wir haben ja eine lange Tradition dieses zeitkritischen Liedes – ich möchte den Begriff des politischen Liedes vermeiden, weil er suggeriert, es gäbe auch Lieder, die nicht politisch seien – von Walther von der Vogelweide über Paul Gerhardt, Hoffmann von Fallersleben, Ernst Busch, Bert Brecht bis hin zu Dieter Süverkrüp und Udo Lindenberg. Diese Lieder haben oft auch in Bewegungen eingegriffen; sie waren immer auch Begleiter der sozialen, politischen, fortschrittlichen Bewegungen. Aber diese Tradition war in Deutschland unterbrochen – wie so vieles, durch die Nazizeit, aber auch schon vorher.“

Hans Bollinger von der Saarbrücker Gruppe Espe: „Waldeck ist nicht tot. Waldeck war ja nicht nur ein Songfestival. Waldeck hat auch Verhalten, politisches Verhalten nach sich gezogen. Und der Geist von Waldeck ist zu spüren in vielen Organisationen, sei es in der Friedensbewegung, sei es in AKW-Gruppen, sei es in anderen Vereinigungen. Auch in der Schule – ich als Pädagoge stelle fest, dass es heute erfreulicherweise immer wieder Liederbücher für die Schule gibt, in denen auch Lieder von den Leuten aufgenommen werden, die auf Waldeck gesungen haben, sei es Degenhardt, Wader oder Süverkrüp. Diese Lieder findet man heute eben sogar in Schulbüchern. Und insofern wird Waldeck auch noch weiterleben.“

Waldeck und die Folgen

Die Waldeck lebte, ohne dass man den Namen nannte, außer in den Schulbüchern auch noch auf mehreren anderen Ebenen weiter: Das Festival hatte trotz vergleichsweise geringer Zuschauerzahlen in den 60er Jahren der BRD ein Alleinstellungsmerkmal, das ihm eine auch medial große Aufmerksamkeit sicherte. Und dadurch die Folgen zeitigen konnte, die die Treffen zweifelsohne hatten. Da waren zunächst die deutschen Liedermacher. Politisch hatten sie den Kapitalismus nicht abschaffen können, so dass die Befürchtung von Väterchen Franz (Josef Degenhardt), „dass das bloß solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann“ (2006), nicht von der Hand zu weisen ist. Künstlerisch sind die Auswirkungen deutlich positiver: Für die, die hören wollten, für die, die darauf hofften, sich vielleicht danach sehnten, dass es jenseits des Schlager-Kitschs der Adenauer-Ära eine andere Möglichkeit gibt, sich in Liedern deutscher Sprache auszudrücken, markierten die Festivals eine Zäsur: Als Ausgangspunkt eines zeitgenössischen Popularliedes in deutscher Sprache führt eine direkte Lieder von den Waldeck-Sängern über Ihre Kinder (1969), Udo Lindenberg (ab 1971) bis hin zu Konstantin Wecker, BAP, Herbert Grönemeyer, Dota Kehr, Bernadette La Hengst und all denjenigen, die heute in deutscher Sprache singen.

Dann folgten dem Waldeck-Festival eine Reihe anderer Festivals, angefangen von den Essener Songtagen 1968 bis hin zu Open Ohr in Mainz oder die aus dem Club Voltaire heraus kreierten Festivals in Tübingen, die sich (zumindest am Anfang) alle um den Begriff Song/Lied und eine dezidiert politische Aussage scharten. „Aus meiner Sicht wäre es falsch, das Waldeck-Festival nun als das große, das politische Festival, das nichts anderes gemacht hat als Politik, darzustellen. Wir sind damals gestartet nach der 68er Zeit mit dem Anspruch, etwas zu retten auf dem langen Marsch in dem Sinne von Rudi Dutschke. [Der Marsch durch die Institutionen ist eine 1967 vom damaligen Studentenführer Rudi Dutschke artikulierte Methode, die eine langfristige politisch-strategische Perspektive der damals noch hauptsächlich studentisch geprägten Protestbewegung in einem inhaltlich linkssozialistisch gemeinten Sinn anmahnte. Später wurde das Schlagwort umgangssprachlich für die berufliche Karriere dieser Studenten bzw. überhaupt der so genannten 68er in den Institutionen des Staates verwendet. Anm.d.Verf.] In dem Zusammenhang entstanden dann die Tübinger Festivals als Versuche, etwas von dem auch in die wirkliche Welt zu bringen, was wir als kleine Minderheit in den Köpfen hatten. So sind bestimmte Themen entstanden, etwa der ‚Tanz um dem Freiheitsbaum‘ 1977. Das war ein Thema eines Tübinger Festivals, wo man daran erinnert hat, dass die Ideen der klassischen Dichter wie Goethe, wie Schiller, dass der Gedanke der Humanität auch damals etwas Oppositionelles war, dass der Einsatz für Einheit, Gleichheit, Brüderlichkeit überhaupt nicht selbstverständlich ist, sondern erkämpft werden musste gegen die Kräfte der Reaktion damals – also die deutsche Klassik, der deutsche Humanismus revolutionäre Wurzeln hatten. Ich finde, dass man so eine emanzipatorische, eine aufklärerische Arbeit auch weiterhin machen sollte. Und ich finde Festivals interessant, die diesen Ansatz weiterführen wollen.“ (Eckard Holler)

Viele der späteren Festivals boten vor allem ein buntes Folk-Potpourri (Interfolk in Osnabrück, Folk in den Bergen im sauerländischen Lennestadt, Braunschweig, Kusel und viele andere). Die größte überregionale Bedeutung hatte eine Zeitlang zweifelsohne das Eurofolkfestival in Ingelheim: Die Stadt war nicht nur relativ zentral gelegen, sondern bot mit der Burganlage auch eine idyllische Kulisse. Aber auch Ingelheim konnte nicht die Bedeutung erlangen, die in anderen westlichen Ländern bspw. das Cambridge Folk Festival, Tønder in Dänemark, Dranouter in Belgien oder Falun in Schweden hatten. 1986 war eh alles vorbei, das Ingelheimer Festival war buchstäblich „kaputtgesoffen“: „Als 1978 die Stadtverwaltung das Festival aufgab, formierte sich eine BI [Bürgerinitiative; Anm.d.Verf.], um erfolgreich für dessen Fortbestand zu kämpfen. Daraus entwickelte sich der Verein, der bis zur endgültigen städtischen Absage 1981 drei große offizielle Festivals organisierte. Seit Pfingsten ’82 lief das Ganze unter bundesweit einmaligen Konditionen weiter. Illegal, ohne Veranstalter, organisiert vom Folkverein und wohl oder übel von der Stadt geduldet, trafen sich je zwei- bis dreitausend Leute, um sich ihr eigenes Festival zu gestalten. Ein politischer und kultureller Freiraum ohnegleichen, der über Jahre optimal genutzt wurde. Seit zwei Jahren ging es mit diesem Unikum einer Nicht-Veranstaltung steil bergab, weil ein rapide wachsender Anteil der Besucher das Festivalgelände als kostenlosen Sauf- und Fummelplatz betrachtete. Politisches und kulturelles Bewusstsein, gemeinsames Erleben und Schaffen, Merkmale, aus denen das Ingelheim-Festival jahrelang seinen Ruf bezogen hatte, wurde von zu vielen Besuchern durch Destruktivität und Ego-Trips ersetzt. Die Folgen waren unbezahlbare Schäden rund um das Gelände, eine zeitweise unerträgliche Atmosphäre dortselbst, Störungen des Programms, unzählige Verletzte bis hin zur mutwilligen Zerstörung des Stromaggregats.“ (Folkverein Ingelheim) Die Ingelheimer warfen frustriert das Handtuch – die Zeit der größeren Folkfestivals in der BRD ging Mitte der 1980er Jahre zu Ende.

Eins hatten die Waldeck-Festivals aber gezeigt: dass Open-Air-Festivals, die über reine Konzertfolgen hinausgehen, auch in Deutschland organisiert werden konnten. „Die Waldeck-Festivals haben mit ihrer Struktur, mit der Mischung aus kleinen Studiokonzerten, großen Abendkonzerten, Hootenannies und mit den Referaten und Diskussionen in ‚Workshops‘ und Arbeitskreisen alle epigonalen und nachfolgenden Festivals beeinflusst, ja sogar entscheidend geprägt.“ (Reinhard Hippen)

Und letztlich waren da noch die Sänger, die für das spätere Folkrevival bedeutend werden sollten: der Engländer Colin Wilkie, der mit seiner Frau, der Archäologin Shirley Hart, auftrat und die deutschen Kollegen immer wieder mit der Frage nach ihren eigenen Volksliedern nervte, sowie aus Deutschland die Zwillinge Hein & Oss Kröher und Peter Rohland. Allerdings – „Versuche der Aufarbeitung der Tradition und ihrer Einbettung in die aktuelle Situation fanden damals nur vereinzelt statt“, bemängelte Manfred Gillig 1978 rückblickend in Sounds.

Die Waldeck war Glanz und Verheißung,
die Waldeck war Kulturmesse und Marktplatz der Eitelkeiten,
die Waldeck war Sprungbrett und Abstellgleis,
die Waldeck war Hauptseminar und Kaffeeklatsch,
die Waldeck war Familientreffen und Leistungsschau,
die Waldeck war Schnulze und Agitprop,
die Waldeck war Dada und Heimatlied,
die Waldeck war unbequem für Körper und Kopf,
die Waldeck war Beschimpfung und Umarmung,
die Waldeck war Liebesakt und Hasstirade
und Süßkirschen von Hunsrückbäumen
auf der Heimreise morgens um fünf.

(Dieter Klemm, Floh de Cologne)

Vielleicht nicht direkt Hass, aber zumindest scharfe Ablehnung schlug den Festivals aus dem bürgerlichen Lager entgegen: Zu einer Melodie von Lothar Olias schrieb Fritz Rotter einen Text, mit dem der Wiener im Hamburger Hafen, Freddy Quinn, dem angeschlagenen Gefühl des biederen deutschen Ruhesuchers aus der Seele sprach:

Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? WIR!
Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? WIR!
Ihr lungert herum in Parks und in Gassen,
wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen? WIR! WIR! WIR!
Wer hat den Mut, für euch sich zu schämen? WIR!
Wer läßt sich unsere Zukunft nicht nehmen? WIR!
Wer sieht euch alte Kirchen beschmieren,
und muß vor euch jede Achtung verlieren? WIR! WIR! WIR!
Denn jemand muß da sein, der nicht nur vernichtet,
der uns unseren Glauben erhält,
der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet,
zum Aufbau der morgigen Welt.
Die Welt von Morgen sind bereits heute WIR!
Wer bleibt nicht ewig die lautstarke Meute? WIR!
Wer sagt sogar, dass Arbeit nur schändet,
so gelangweilt, so maßlos geblendet? IHR! IHR! IHR!
Wer will nochmal mit euch offen sprechen? WIR!
Wer hat natürlich auch seine Schwächen? WIR!
Wer hat sogar so ähnliche Maschen,
auch lange Haare, nur sind sie gewaschen? WIR! WIR! WIR!
Auch wir sind für Härte,
auch wir tragen Bärte,
auch wir geh՚n oft viel zu weit.
Doch manchmal im Guten,
in stillen Minuten,
da tut uns verschiedenes leid.
Wer hat noch nicht die Hoffnung verloren? WIR!
Und dankt noch denen, die uns geboren? WIR!
Doch wer will weiter nur protestieren,
bis nichts mehr da ist zum protestieren? IHR! IHR! IHR!

Freddy Quinn sang, Franz-Josef Strauß polterte – und wurde gekontert: „Mein Lieblingsbeispiel für ein gelungenes politisches Lied war eine vielhundertstimmige Vokalimprovisation, die dem Franz Josef Strauß an einem Augustabend des Jahres 1969 im Festsaal des Neuen Kurhauses zu Aachen entgegenschlug. Strauß hatte kurz zuvor einen grenzwertigen Kommentar zur APO abgegeben: ‚Diese Personen benehmen sich wie Tiere, für die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist.‘ Infolgedessen erhob sich im Publikum jedes Mal, wenn er bei der Aachener Wahlkampfveranstaltung ans Mikro trat, ein gewaltiger symphonischer Lärm, ein Krähen, Bellen, Knurren, Miauen, Blöken, Meckern, Muhen, Röhren, Tirilieren, Wiehern, Grunzen, Mäusefiepen, Klapperschlangenrasseln, Brüllaffenbrüllen, elefanteskes Trompeten – es muss fantastisch geklungen haben … Strauß hat offenbar verstanden, denn als auch der dritte Versuch, seine Rede mit gepanzerter Lautsprechergewalt gegen das nackte Stimmengewimmel im Saal durchzusetzen, gescheitert war, hat er tatsächlich resigniert, was sonst nicht seine Art war.“ (Walter Moßmann)

Auf der Waldeck tat sich vier Jahre (musikalisch) nicht viel; dann trafen sich mehr oder weniger spontan zu Pfingsten 1973 einige der alten Kämpen. Die Conrads waren dabei und der dreifach promovierte Wiener „Genosse Genosse Genosse“ Rolf Schwendter, später Professor für Devianzforschung an der Universität Kassel, John Pearse, der unvermeidliche Dieter Dehm (Lerryn) oder auch Jürgen Schöntges (noch als Hälfte des Duos Sepp und Jürgen). Im Kreise der Liedermacher wurde eine AG Song gegründet, die „auf Singe- und Arbeitstreffen persönliche Kontakte unter Sängern vermitteln und Grundlagen über Entstehung, Gestaltung und Wirksamkeit des neuen Liedes, insbesondere des demokratischen Songs, erarbeiten“ sollte (Hotte Schneider) Trotz des unermüdlichen Einsatzes des Vorsitzenden, des Frankfurter Journalisten Stephan Rögner, litt diese Arbeitsgemeinschaft der Liedermacher während all der Jahre ihres Bestehens (bis 1994) weniger daran, dass man sich nie zu einer rechtlichen Form durchringen konnte (was einige Aktive heftig kritisierten), sondern vor allem am Fehlen der ‚etablierten‘ Künstler. Das minderte die Glaubwürdigkeit der AG Song, überzeugend als Sprachrohr und Interessensvertreter der deutschsprachigen Liedermacher auftreten zu können, und es umgab die AG Song immer mit der Aura eines Vereins derjenigen, die verzweifelt nach Kontakten und Auftrittsmöglichkeiten suchten.

Langfristig erfolgreicher war das Pfingsttreffen 1973 für die Burg Waldeck selbst, denn damit etablierte sich der Ort wieder als Treffpunkt und Veranstaltungsort für Jugendgruppen und Musiker, vor allem Liedermacher. In der Folge wurden Kurse in Lied und Kabarett, Tanz und Instrumentalkunde angeboten, seit 2000 dann auch ein Wettbewerb im Singen, der Peter-Rohland-Singewettstreit, ab 2004 jährliche Liederfeste zu Pfingsten; mit dem Freakquenz-Festival wurde bewusst der Anschluss an neue musikalische Ausdrucksformen der Jugendlichen gesucht.

Keiner der Protagonisten der Waldeck-Festivals der 60er Jahre war direkt am bundesdeutschen Folkrevival der 70er beteiligt. Peter Rohland starb 1966 überraschend an einer Gehirnblutung; Hein und Oss Kröher waren repertoiremäßig als Paten nahezu überqualifiziert, doch ihr Sound drängte sie ins Abseits: Ihre kernige Herangehensweise atmete überdeutlich den Geist der Bündischen, und sie waren einige Jahre zu alt, zu nah an der Elterngeneration, als dass sie Jugendlichen wirklich hätten als Vorbild dienen können. Rolf Wilhelm Brednich vom Deutschen Volksliedarchiv war 1967 entsprechend skeptisch: „Trotz dieser wohlgemeinten Bemühungen um einen Neuansatz scheint es den Folksong deutscher Prägung noch nicht zu geben, und es bleibt abzuwarten, ob ihn die Folklore-Welle hervorbringen wird.“ Wofür Carsten Linde eine einleuchtende Erklärung fand: „1968, das war das Jahr der Aufbruchstimmung, z.B. in der Studentenbewegung. Da waren einfach andere Dinge wichtiger als das Volkslied. Das nationale Volkslied spielte nicht die Rolle wie neue Lieder, die Ausdruck gaben von Hoffnung, von Vorstellungen, wie man leben wollte und was man in dieser Gesellschaft erleidet. Deshalb war Funkstille in der Aufbereitung des deutschen Volksliedes.“ Was ihn nicht daran hinderte, schon 1969 in Ludwigshafen ein Folkfestival zu initiieren, das er explizit als Nachfolger der Waldeck-Festivals ansah.

Walter Moßmann setzte allerdings auf einen Langzeiteffekt und sprach dafür den Kröher-Zwillingen besonderen Dank aus: „1965/66, als ich die 48er Lieder von Peter Rohland gehört habe, fand ich sie nicht so gut wie die raffinierten Zeitgedichte von Heine. Heute denke ich anders. Ich bin selber vom Podest runtergekommen, hab andere Erfahrungen gemacht, Steinitz gelesen. Und dankenswerterweise sind uns Hein und Oss mit diesen wichtigen Liedern so lang in den Ohren gelegen, bis wir sie kannten.“ Wenn also auch auf der Waldeck eher das zeitgenössische Lied als das Volkslied im Vordergrund stand – die auf der Bühne und die, die davor saßen, waren Studenten (bzw. ehemalige), Vertreter eines Bildungsbürgertums und damit dem ‚normalen‘ Volksliedkonsumenten intellektuell überlegen. Doch die Idee, genau nachzusehen, was von den alten Liedern, den einfachen Volks- ebenso wie den literarischen Liedern, noch bzw. wieder singbar sein könnte, stand fortan im bundesdeutschen Raum: Das Folkrevival konnte kommen.